Freundin der Buchhandlung empfiehlt: „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ von Alina Herbing

In der schier endlosen Reihe an belesenen Freundinnen der Buchhandlung empfiehlt Annette Bartlau das Buch „Tiere, vor denen man Angst haben muss“ von Alina Herbing:

„Der Roman schildert in bildstarken Worten das Leben zweier Schwestern im Teenageralter, die in den 90er Jahren mit ihrer Mutter auf einem verfallenen Hof in der mecklenburgischen Einöde leben. Die Mutter hat eine Auffangstation für verletzte und problematische Tiere gegründet, die sie fast täglich aus Notsituationen befreit. Da passiert es schon mal, dass eine Tochter im Schneeregen vor dem Supermarkt vergessen wird und selbst zusehen muss, wie sie abends auf den abgelegenen Hof zurückkommt. „Die Tiere gehen immer vor.“ Damit leben Madeleine und Ronja und arrangieren sich, jede auf ihre Art, mit der zunehmend katastrophaleren Situation zu Hause. Vater und Brüder haben die Familie schon lange verlassen.

Tiere und Natur nehmen dafür immer mehr Raum ein und drängen die Mädchen zurück, so dass sie irgendwann selbst in ihren eigenen Zimmern keinen wirklichen Rückzugsort mehr haben. So wird in einen Teebecher uriniert, weil die Zimmertür von außen versperrt ist von Brutus, einem bedrohlichen Pflegehund. Zwischen von Tieren zerstörtem Mobiliar, schwindenden Vorräten und einer wachsenden Rattenplage verwahrlost der Hof immer mehr und irgendwann werden sogar familiäre Erinnerungsstücke im Ofen verfeuert, um nicht zu frieren.

Bewundernswert ist, wie die beiden Schwestern sich Halt geben. Sie trotzen der zunehmenden Kälte, die sie von allen Seiten umgibt (durch die Ritzen der Mauern, die eingefrorenen Wasserrohre und nicht zuletzt durch die fehlende Zuwendung der Mutter) und schaffen es immer wieder, sich auch in den schlimmsten Situationen gegenseitig die dringend benötigte Wärme zu spenden. Dieses Buch klingt lange nach.“

Alina Herbing:
„Tiere, vor denen man Angst haben muss“
Arche Verlag, 256 Seiten, 23 Euro
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Buchtipp: „Das Philosophenschiff“ von Michael Köhlmeier

Mit „Das Philosophenschiff“ hat der österreichische Autor Michael Köhlmeier einen faszinierenden Roman geschrieben. Worum geht es: Die Grande Dame der Architektur, berühmt in den USA und Europa, Frau Professor Anouk Perleman-Jacob feiert ihren hundertsten Geburtstag mit der Hautevolee Österreichs. Bei dieser Gelegenheit lädt sie den Autor und Ich-Erzähler ein, ihm bei Bier und Zigaretten ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Geboren wurde sie 1908 im zaristischen Sankt Petersburg als einzige Tochter jüdischer Eltern, einer angesehenen Ornithologin – sie hatte die Rosenmöwe in den Polargebieten entdeckt – und eines Architekturprofessors. Sie erleben die Revolution, das Zarensystem wird abgelöst durch den Terror und die Entbehrungen der Bolschewisten. Die Familie kommt zusammen mit einem Dutzend anderer Intellektueller auf einen für das Grüppchen viel zu großen Kreuzfahrtdampfer. Dort begegnet das Mädchen einem geheimen Mitpassagier: Lenin.

Historische Fiktion ist das Genre, dessen sich Köhlmeier nach „Zwei Herren am Strand“ über eine fiktive wenn auch prinzipiell mögliche Begnung von Winston Churchill und Charlie Chaplin wieder bedient. Neben dem spannungsreichen Plot bietet dieser Roman wertvolle Erkenntnisse über das Leben und Denken in autoritär gelenkten Gesellschaften, heute wertvoller denn je.

Nur mit Tapferkeit, Chuzpe und einer sehr großen Portion Glück kann man die Diktatur unbeschadet überstehen und einhundert Jahre alt werden.

Michael Köhlmeier
„Das Philosophenschiff“
Hanser Verlag, 224 Seiten, 24 Euro
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Wanderer über dem Büchermeer: Zwei Buchtipps zum Caspar David Friedrich -Jubiläum

Zum 250. Geburtstag von Caspar David Friedrich empfehlen wir neben dem Buch von Florian Illies „Zauber der Stille“ zwei weitere Titel über das Geburtstagskind:

 

Caspar David Friedrich – Biografie“
von Boris von Brauchitsch
Insel Verlag, 316 Seiten, 20 Euro
Sehr gründlich beleuchtet der Autor den Maler, seine Werke und stellt den Frühromantiker in den Kontext seiner Epoche. In hoher Qualität wurden viele Bilder Caspar David Friedrichs in dem Buch reproduziert und ausführlich erläutert. Mit einer gewissen Distanz und Respekt nähert sich von Brauchitsch dem Künstler.

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Die Frau am Fenster – Ein Leben an der Seite von Caspar David Friedrich“ von Birgit Poppe
Gmeiner Verlag, 282 Seiten, 20 Euro
Als er 44 Jahre alt war, heiratete Caspar David Friedrich die zwanzig Jahre jüngere Caroline Bommer. Die Hochzeitsreise führte die beiden zu den Kreidefelsen von Rügen. Das Paar erlebte liebevolle, aber auch sehr schwere Jahre. Das Buch zeichnet ein lebensnahes Bild dieser Familie und ihrer Zeit.

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(Bild: Nagy & Nagy)

Bemerkenswerte neue Taschenbücher: Für wenig Geld hochkarätige Literatur

Einige sehr feine Taschenbücher sind in diesen Tagen erschienen, besonders geeignet für alle Leser und gerade auch Lesekreise, die sich über hervorragende Lektüre zum kleineren Preis freuen. Wir empfehlen:

 

Honorée Fanonne Jeffers: „Die Liebeslieder von W. E. B. du Bois“
Piper, 992 Seiten, 18 Euro
Nur fast 1.000 Seiten über das bewegende Aufwachsen der Ailey Garfield. Das schwarze Mädchen behauptet ihren eigenen Willen gegenüber ihrer Familie und einer immer noch rassistischen Umwelt. Den Hintergrund bildet die gewaltvolle Geschichte Nordamerikas.

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Karen Duve“: „Sisi“
KiWi Tachenbuch, 416 Seiten, 14 Euro
Die Kaiserin Österreichs war hübsch aber nicht nur entzückend. Die Intrige beherrschte sie genauso wie waghalsige Reitjagden. Eine facettenreiche Geschichte erzählt die Autorin über diese legendäre Frau.

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Jakob Hein: „Der Hypnotiseur“
KiWi Taschenbuch, 208 Seiten, 13 Euro
Micha darf in der DDR sein Psychologie-Studium nicht zu Ende führen. Schopenhauer ist schuld. Stattdessen lässt er seine „KundInnen“ per Hypnose in fremde, schöne Länder reisen. Seine Freundin Anika hilft ihm, damit ein vielversprechendes Geschäftsmodell aufzubauen. Die Staatsmacht ist skeptisch Ein DDR-Schelmenroman.

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Maryse Condé: „Das Evangelium der neuen Welt“
btb Verlag, 320 Seiten, 16 Euro
Dieser Roman, der so karibisch-prächtig-farbig wie sein Cover ist, erzählt die Geschichte von Pascal. An einem Ostersonntag wird er als Baby von einem Ehepaar auf einer Karibikinsel gefunden. Die Suche nach seiner Herkunft und nach Glück bestimmt das Leben dieses Helden in einer multikulturellen Welt.

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Joachim B. Schmidt: „Tell“
Diogenes, 288 Seiten, 14 Euro
Der Schweizer Autor macht aus dem klassischen Schiller-Stoff einen rasante Krimi. Es geht um den Kampf zwischen Mensch und Natur sowie zwischen Mensch und Mensch in der Gesellschaft im Umbruch.

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Claudia Schumacher: „Liebe ist gewaltig“
dtv, 376 Seiten, 13 Euro
Eine Frau wächst in einer nach außen vorbildlichen, bürgerlichen Familie auf. Hinter der glänzenden Fassade herrscht Gewalt durch den Vater. Die Frau bleibt gezeichnet von dieser Jugend bis in ihre Beziehungen als Erwachsene. Sie kämpft um Wärme und Selbstermächtigung.

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Fritzis Kinderbuchtipp: „Among us – Verrat im Weltall“ von Laura Rivière

Buchbotschafterin Fritzi hat ein neues Lieblingsbuch: „Among us – Verrat im Weltall“ von Laura Rivière. Worum geht es? Ein kleines Raumschiff ist unterwegs im unendlich großen Weltraum. Plötzlich passieren seltsame Dinge. Ein Mitglied des Teams wird tot aufgefunden. Wer steckt dahinter? Fritzi findet das Buch superspannend und ein kleines bisschen gruselig. Richtig gut. Wer darf und will, kann die Geschichte digital weiterspielen.

Laura Rivière: „Among us – Verrat im Weltall“
Loewe Verlag, 190 Seiten, 9,95 Euro
ab 12 Jahre

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Buchtipp: „Lichtungen“ von Iris Wolff

Der neue Roman „Lichtungen“ von Iris Wolff erzählt die Geschichte zweier Menschen, die sich auch in der Entfernung unglaublich nah bleiben. Kato, ein Mädchen, und Lev, ein Junge, kennen sich seit ihrer Kindheit in einem Dorf im Norden Rumäniens, in Siebenbürgen. Die Vielvölkerregion blickt auf eine wechselvolle Geschichte zurück. Entsprechend sehen sich die Menschen als Rumänen, Ungarn, Deutsche, Österreicher, Sinti, Juden oder irgendwas dazwischen. Beide Kinder entdecken, dass sie so verschieden aber sich dennoch ganz nah sind. Nach dem Fall des eisernen Vorhangs ergreift Kato die Chance: Sie radelt mit einem Deutschen zusammen in den Westen. Ein paar Jahre später sehen sich Lev und Kato wieder.

Erzählt wird die Geschichte vom Ende her. Der Roman beginnt mit dem neunten Kapitel und wandert schrittweise immer weiter in die Vergangenheit, die nach und nach allerlei Familiäres und Verschüttetes preisgibt.
Die sensible Erzählweise erzeugt Bilder wie zart hingetuschte Aquarelle. Sensibel beschrieben erscheinen die beiden Protagonisten und die interessanten, charaktervollen Nebenfiguren – ähnlich wie bei Franz Werfel, aber in einem modernen Gewand. Sehr, sehr lesenswert.

Iris Wolff: Lichtungen
Klett-Cotta Verlag, 256 Seiten, 24 Euro

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Kinderbuchtipp: „Ziemlich beste Schwestern“ von Sarah Welk und Sharon Harmer

Wunderbar ist der neue Sammelband von „Ziemlich beste Schwestern“. Mimi und Flo kommen immer wieder auf lustige Ideen, womit sie die Familie in Schwung halten. Ob sie mal einen Riesenkuchen backen, eine Affenparty organisieren oder ein Suppenhuhn bestatten. Dieser Band vereinigt die besten Geschichten der anderen Bücher über die beiden Schwestern. Es eignet sich sowohl zum Vorlesen als auch mit großer, gut lesbarer Schrift für leselustige Erstleser.

Sarah Welk / Sharon Harmer:
Ziemlich beste Schwestern – Die ziemlich besten Abenteuer
Ars Edition, 234 Seiten, 18 Euro
Ab 6 Jahren

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Ab in die Alpen: „Berghütte“ von Fanny Desarzens

Kennt ihr das? Ihr liegt auf dem Sofa, lest ein Buch und plötzlich seid ihr in einer Berghütte in den Schweizer Alpen. Mit einer kleinen Gruppe seid ihr in zwei Tagen hierher, zur Baïta, gewandert. Draußen neben der Hütte in der Sonne stehen die grau-weiße Stute Ariel mit langer Mähne und eine kleine schwarze Kuh mit dunklen, schönen Augen, Petite Étoile. Drei Freunde treffen sich regelmäßig hier in den Bergen, Jonas und Galel, beide Bergführer und Paul, der die Hütte bewirtschaftet. Die drei Männer sind sich vertraut, ähneln einander, sind aber auch recht verschieden, was Temperament und die Fähigkeit, Brot gerade zu schneiden, angeht. Die Schönheit der Natur zieht hier oben jeden in ihren Bann. Sie birgt aber auch Gefahren. Später passiert etwas Schmerzhaftes.

Die Schweizerin Fanny Desarzens entführt in ihrem Roman „Berghütte“ in eine ganz andere, besondere Welt. Wir wandern, geleitet von ihr und ihrer angenehmen Sprache über Bergrücken und durch Hochtäler, begegnen sympathischen Tieren und Menschen, denen schmerzhafte Erfahrungen nicht erspart bleiben. Aber man will nicht weg aus dieser harmonischen, aber mitunter fordernden Bergwelt.

Fanny Desarzens: „Berghütte“
Atlantis Verlag / Kampa, 140 Seiten, 20 Euro

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Jugendbuchtipp: „Herzklangstille“ von Julia Dessalles

Ein Buch, das zu Herzen geht. Holt die Taschentücher raus für „Herzklangstille“ von Julia Dessalles. Es geht um June, die die Trauer um ihre verstorbene Mutter verarbeitet. Ihr Vater hat ihr im verwilderten Garten eine Telefonzelle hingestellt, in der sie mit ihrer Mutter sprechen kann. Eines Tages antwortet ihr tatsächlich jemand. Sie findet zwei Menschen, die mit ihr in einer rätselhaften, schicksalhaften Verbindung stehen. Der Roman handelt vom Leben, Abschied, von Vertrauen und vom Mut gewinnen.

Julia Dessalles: „Herzklangstille“
Arctic Verlag, 364 Seiten, 20 Euro
Ab 14 Jahren

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Sachbuchtipp: „Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft“ von Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westhäuser

Bauernproteste, Klimastreit, Bürgergeld … Die Gesellschaft erscheint heute so zerstritten oder gar gespalten wie noch nie. Warum ist das so und stimmt dieser Eindruck überhaupt? Einige Soziologen haben sich dieser Frage angenommen, systematisch untersucht und analysiert. Bei Suhrkamp sind die Ergebnisse als gehaltvolles Taschenbuch unter dem Titel „Triggerpunkte“ erschienen. Die Autoren kommen zu überraschenden Ergebnissen: Sie haben vier „Arenen der Ungleichheit“ in Deutschland ausgemacht, also vier zentrale gesellschaftliche Herausforderungen: Armut und Reichtum, Migration, Diversität und Gender und Klimaschutz. Zu diesen Themen herrsche in der Mitte der Gesellschaft eigentlich relativer Konsens. Aber wenn die Diskussion bestimmte „Triggerpunkte“ berührt, wird die Debatte mitunter hitzig bis schrill. Der Grund: Vor allem Gruppen von den politischen Rändern der Gesellschaft versuchen die Diskussionen zu diesen Reizthemen für sich zu nutzen, indem sie extrem polarisieren. Diese „Triggerpunkte“ sind unter anderem Gendersternchen, Tempolimit oder Clankriminalität. Hieran entbrennen sich emotionale Debatten, die mitunter gerne in der Politik genutzt werden, um Anhänger und Wähler zu mobilisieren.

Obwohl das Buch von Soziologen verfasst wurde, ist es relativ gut lesbar und hochinteressant. Es lässt sich auch als Aufforderung verstehen, gesellschaftliche Kontroversen mit einer gewissen Gelassenheit zu verfolgen und nicht den Populisten zu überlassen, sondern sich mit einzubringen.

Steffen Mau, Thomas Lux, Linus Westhäuser:
Triggerpunkte – Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft
Edition Suhrkamp, 540 Seiten, 25 Euro
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